fokus

Unterwegs zur gendergerechten Bildung

Frauen bilden sich, besonders in der Schweiz, deutlich seltener als Männer technisch und naturwissenschaftlich aus. Im Unterricht werden sie oft nicht gleichberechtigt und adäquat angesprochen. Solche Geschlechterungleichheiten kennzeichnen unsere Bildungslandschaft. Wie lässt sich Gendergerechtigkeit herstellen? Wir suchen nach Antworten und Lösungen.

Text: Roger Portmann

Drei Wissenschaftlerinnen erklären uns seit Beginn der zweiten Corona-Welle, was Sache ist. Die Virologin Isabella Eckerle, die Epidemiologin Emma Hodcroft und die Mathematikerin Tanja Stadler prägen seit vergangenem Winter die wissenschaftliche Diskussion rund um die gegenwärtige Pandemie. In sozialen Medien und Kommentarspalten von Zeitungen brandet ihnen seither viel Entrüstung entgegen. Eine, die sich ungefiltert, anonym und mit vielen Orthografiefehlern artikuliert – und viel mit Sexismus zu tun hat. Man traue diesen drei Frauen weniger zu, weil sie sich in einer Männerdomäne bewegten, erklärt Katja Rost von der Universität Zürich. Um dies zu ändern, brauche es mehr Wissenschaftlerinnen, so die Soziologin. Auch die renommierte Physikerin und Weltraumforscherin der Universität Bern Kathrin Altwegg hat solche Geringschätzung während ihres Studiums erlebt. Sie erzählt, damals habe ihr ein Professor beim Prüfungsvorgespräch gesagt, er wisse ja, dass Frauen in Physik nicht so gut seien, daher wolle er mir beim Examen dann einfache Fragen stellen. Dabei, so Altwegg, müsse man den Frauen im Gegenteil etwas zutrauen in den MINT-Fächern, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, um sie zu fördern. (siehe Interview mit der Astrophysikerin Kathrin Altwegg)

Frauen arbeiten selten als Physikerin oder Elektroinstallateurin, Männer selten als medizinischer Praxisassistent oder Kleinkinderzieher. Diese Geschlechtersegregation, also die Trennung von Berufen in männer- und frauendominierte Tätigkeiten, ist in der Schweiz stärker ausgeprägt als in anderen europäischen Ländern. Erklärungen für die Sortierung in geschlechtstypische Ausbildungen und Berufe liefert uns die Bildungssoziologie und nennt dabei die in der Gesellschaft vorherrschenden und individuell verinnerlichten Geschlechternormen und -stereotype, aber auch institutionelle Mechanismen wie die Art des Berufsbildungssystems, Lohnniveaus oder Personalrekrutierungs- und Arbeitsverhältnisse in den Unternehmen. Sie alle schränkten die Ausbildungs- und Berufsfindung ein, dadurch würde aus einer vermeintlich freien Wahl die Fortschreibung der geschlechtsspezifischen Segregation. In diesem Kontext sind die Geschlechterungleichheiten in Schule und Ausbildung zu betrachten. Sie widersprechen den Maximen von Gleichstellung und Rechtsgleichheit und sind ethisch fragwürdig, weil sie die Entfaltungsmöglichkeiten und das Interessenspektrum von Menschen unnötig einschränken und sind, angesichts des immer wieder zitierten Fachkräftemangels, auch ökonomisch schädlich.

Frauen hätten öfters andere Interessen als Männer, gibt Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich zu bedenken. «Mädchen und Frauen interessieren sich eher für Dinge, die die Welt ein bisschen besser machen», sagt die Psychologin. Wenn man sie für Naturwissenschaft und Technik gewinnen wolle, müsse man ihnen verdeutlichen, dass sie damit auch Energie oder medizinische Probleme lösen und zum Wohle von Mensch und Umwelt beitragen könnten, sonst würden sie sich nach anderen Ausbildungen umschauen. «Intelligente Frauen haben eben viele Fähigkeiten, sind sprachlich und mathematisch gut, sie haben also Wahlmöglichkeiten», erklärt Stern. Viele Frauen wüssten nicht, welche Möglichkeiten sie als Naturwissenschaftlerin, Ingenieurin oder Informatikerin hätten, daher müsse man ihnen möglichst früh solche Wege aufzeigen und ihnen das Gefühl vermitteln, dass man sie wolle und dass sie dazugehörten. Dies solle früh beginnen: «Bereits im Kindergarten kann man das Interesse an physikalischen oder technischen Dingen fördern und die Kinder spielerisch experimentieren und Hypothesen aufstellen lassen», so Stern.

Wie man Frauen geschlechtergerecht anspricht, um sie für die MINT-Bereiche zu gewinnen, damit beschäftigt sich auch die Wissenschafts-Olympiade. Nicole Schäfer, Koordinatorin bei der Wissenschafts-Olympiade, dem an der Universität Bern angesiedelten Dachverband der neun Olympiaden, leitet dort das Projekt «Gender». In dessen Rahmen entstand ein wissenschaftlich fundiertes Gender-Konzept und ein Leitfaden für eine gendergerechte Gestaltung der Wissenschafts-Olympiade durch die freiwilligen Mitarbeiter*innen. Der Leitfaden sieht beispielsweise vielfältige Angebote auch mit geschlechtergetrennten Varianten vor. Die Erfahrungen mit entsprechenden Mathematik- und Informatik-Workshops seien positiv: «Die Teilnehmerinnen sind nur mit gleichgesinnten Mädchen und Frauen zusammen und einmal nicht in der Minderheit, was sie ermutigt, sich auf diese Welt einzulassen», erläutert Schäfer. Im Weiteren motiviert man mit kostenlosen Lego-Mindstorms-Sets zusätzliche Frauenteams für die Teilnahme an der Robotik-Olympiade (siehe Magazin 10/2019), bemüht sich um die Gewinnung weiblicher Rollenvorbilder in den MINT-Olympiaden und sensibilisiert mit einem regelmässigen Newsletter Lehrpersonen für weitere Förderangebote. Mit allen diesen Massnahmen mache die Wissenschafts-Olympiade den Jungs aber keine Tür zu, sondern man öffne einfach eine zusätzliche Tür für Mädchen, betont Schäfer im Gespräch.

Rollenvorbilder erfolgreicher Frauen, mit denen sich weibliche Lernende identifizieren und dadurch ihr Selbstvertrauen als Minderheit in den männerdominierten MINT-Fächern stärken können, erachtet auch Peter Labudde von der Fachhochschule Nordwestschweiz als sehr wichtig. Der Naturwissenschafts-Didaktiker erörtert, aus der Lernpsychologie wisse man, dass eine solche Selbstkompetenzüberzeugung der Haupthebel sei, an dem man ansetzen könne. Die motivierenden Rollenmodelle müssten zeitgemäss sein, auch Lehrpersonen könnten dazu zählen. Letztere seien für eine geschlechtergerechten Unterricht schon im Kindergarten prägend. Mit einem naturwissenschaftlichen Unterricht, der an Interessen und Vorwissen der Lernenden und an lebensnahen Themen wie Sport, Umwelt oder Musik anknüpfe, komme die Lehrperson bei Mädchen und Jungen an. Didaktisch bewährten sich ein teilweiser monoedukativer Unterricht, der sich ausschliesslich an Frauen richte, sowie ebensolche Informationsveranstaltungen und Angebote wie jene der Wissenschafts-Olympiade. «Eine grosse Verantwortung tragen auch die Eltern», sagt Labudde, denn die frühe Geschlechterprägung geschehe hauptsächlich dort, in der Familie. Und schliesslich brauche es gendergerechte Lehrmittel.

Geschlechterungleichheiten in Lehrmitteln untersucht und geschlechtergerechte Überarbeitungsempfehlungen für ein Physikbuch ausgearbeitet hat ein Team um Elena Makarova. Warum die Sprache in Lehrmitteln wichtig ist, erklärt die Direktorin des Instituts für Bildungswissenschaften der Universität Basel mit Erkenntnissen aus der lehrmittelbezogenen Wirksamkeitsforschung: «Durch die Sprache werden das Geschlecht bzw. die Geschlechterverhältnisse nicht nur repräsentiert, sondern auch hergestellt.» Das generische Maskulinum wie beispielsweise «Physiker» werde mit männlichen Personen assoziiert, was das Bild, dass Naturwissenschaften den Männern vorbehalten seien, verfestige, so Makarova. Sprache bildet die Realität eben nicht bloss ab, sondern formt sie auch. Damit ein Lehrmittel beide Geschlechter gleichwertig anspreche, nennt Makarova folgende Kriterien: «Fachinhalte zeigen Frauen und Männer, Mädchen und Knaben in zeitgemässen, vielfältigen Rollen und orientieren sich an den sozialisationsbezogenen Vorerfahrungen und Interessen beider Geschlechter. In Sprache, Texten und Bildern werden die Geschlechter gleichwertig angesprochen.» Den Lehrmitteln und den darin vermittelten Inhalten komme, wenn es um motivationsförderliche Unterrichtsgestaltung gehe, eine zentrale Rolle zu, berichtet Makarova.

Der hep Verlag, der auch diesen «Fokus» herausgibt, hat mit der Bildungswissenschaftlerin Makarova zusammengearbeitet. So habe man wichtige Erfahrungen sammeln können, um Geschlechtergerechtigkeit in den hep-Lehrmitteln umzusetzen, erklärt Bettina Jossen vom hep Verlag. «Nicht nur sollen alle Schüler*innen angesprochen werden, sondern es sollen in Aufgabenstellungen, Bildauswahl und Texten auch verschiedene Protagonist*innen in nicht stereotypen Rollen auftreten», konkretisiert Jossen. Gerade als Bildungsverlag, der für eine offene und tolerante Gesellschaft stehe, sei es wichtig, die Sprache nicht nur als Instrument für den alltäglichen Gebrauch zu sehen, sondern als Kulturgut, das unsere Gesellschaft und unsere Gedankenwelt präge. Mit der Einführung des Gendersterns wolle der Verlag auch Menschen mit nicht binären Geschlechtsidentitäten ansprechen. «Der Begriff wurde in den Duden aufgenommen und geniesst bereits eine breite Akzeptanz», führt sie weiter aus.

In den Deutschschweizer Volksschullehrplänen gab es bezüglich Geschlecht, Geschlechterrollen und -gleichstellung bis vor kurzem immense kantonale Unterschiede. Mit der Einführung des Lehrplans 21 (siehe Magazin 9/2018) wurde dies für alle deutschsprachigen Kantone verbindlicher Unterrichtsinhalt. Christa Kappler und Patricia Schär von der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) befragten dazu vor zwei Jahren Lehrpersonen unterschiedlicher Schulstufen mittels telefonischer Interviews. Gut zwei Drittel der Lehrpersonen kannten die neue Kompetenz «Reflexion von Geschlecht und Rollen» nicht, trauten sich aber dennoch zu, sie mit den Schüler*innen zu erarbeiten. Christa Kappler schreibt die geringe Bekanntheit der Kompetenz den vielen Neuerungen des Lehrplans 21 und den für Lehrpersonen subjektiv drängenderen Themen zu. Sie setze auf die Reflexionsfähigkeit der Lehrpersonen hinsichtlich Geschlecht, Normvorstellungen und gesellschaftlicher Heterogenität, sagt die Erziehungswissenschaftlerin im Gespräch. Für einen niederschwelligen Einstieg ins Thema hält die PHZH ausserdem eine Liste mit Unterrichtstipps für Lehrpersonen bereit.

Eine geschlechtergerechte Schule braucht also reflexionsfähige Lehrpersonen, auf jeder Stufe. Karin Eder und Margrith Wahrbichler unterrichten als Berufsschullehrerinnen in männer- bzw. frauentypischen Berufen. Als solche werden Beschäftigungen bezeichnet, in denen der Anteil eines Geschlechts mehr als 70 % ausmacht. Die fast nur männlichen Fachleute Betriebsunterhalt EFZ unterrichten Eder und Wahrbichler in Berufskunde in Wetzikon (ZH). Eder erteilt ausserdem allgemeinbildenden Unterricht (ABU) für angehende Tierpfleger*innen, die mehrheitlich weiblich sind. Geschlechtergleichheit ist beiden Lehrerinnen Anliegen und Selbstverständlichkeit zugleich. Als Lehrpersonen würden sie diesbezüglich eine grosse Verantwortung tragen, erzählen sie, gerade wenn es um den respektvollen Umgang miteinander gehe. Eder adressiert ihre Lernenden geschlechtergerecht, indem sie je nach Männer- oder Frauenmehrheit in der Klasse die Unterrichtsmaterialien bewusst auswählt und auch Situationen bringt, die nicht dem Klischee entsprechen, «damit die Lernenden über die Stereotype hinausdenken können». Ähnlich geht Wahrbichler vor, die im Unterricht auch gerne Unerwartetes zeigt, etwa eine Baustellensignalisation mit einer Frau auf dem bekannten dreieckigen Hinweisschild. Ihr ist aber auch wichtig, dass die wenigen Frauen auf alle Klassen verteilt und alle Lernenden von Frauen und Männern unterrichtet werden: «Gemischt macht es mehr Sinn», fasst Wahrbichler ihre jahrelange Erfahrung in Beruf und Schule zusammen und bricht eine Lanze für Diversität.

An derselben Schule im Zürcher Oberland erteilt Nicole Varga Allgemeinbildung (ABU), jenen Unterricht also, in dem sich junge Berufslernende jenseits von beruflichen Fertigkeiten die Kompetenzen für ein gelingendes Leben in der Schweiz erarbeiten. «Alle sollen dieselben Möglichkeiten haben, alle sollen angesprochen werden und sich finden können», beschreibt sie Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Der ABU biete viele Möglichkeiten, Geschlechterungleichheiten zu thematisieren: Lohnunterschiede, Rechtliches, Formen des Zusammenlebens usw. Bei gemischten Klassen verwendet Varga in ihren Materialien den Genderstern. Es gebe Lernende, die dies in ihren Prüfungstexten übernommen hätten, stellt sie fest. Darüber hinaus möchte sie mehr den Menschen und weniger das Geschlecht in den Fokus stellen, sagt Varga. Roman Wiprächtiger, in Zürich ABU-Lehrer bei angehenden Dentalassistent*innen, mit mehrheitlich Frauen mit Migrationshintergrund in den Klassen, thematisiert auch Sexualität, Homosexualität und Transgender. «Ich versuche so, die oft starren Geschlechtervorstellungen meiner Schülerinnen aufzubrechen», begründet Wiprächtiger seine Unterrichtsinhalte. Den Einfluss einer Lehrperson dürfe man aber nicht überschätzen, denn Familie und Freundeskreis seien viel wichtiger, wenn es um Rollenbilder gehe, ergänzt der ABU-Lehrer.

Amy Mathis ist als zukünftige Elektroinstallateurin EFZ eine der Lernenden Nicole Vargas. «Ich muss auf der Baustelle gegenüber den vielen Männern zuerst zeigen, dass ich etwas kann, damit sie mich respektieren», resümiert sie ihre bisherigen Erfahrungen im 1. Lehrjahr, aber sie könne gut damit umgehen, «denn ich weiss, was ich kann». Mathis ist sicher, dass es zu besseren Lösungen führe, wenn es auf der Baustelle verschiedene Ansichten gebe, wie man die Dinge angehen könne. Auch sie bringt das Konzept der Diversität ins Spiel, das in der Wirtschaft immer wichtiger wird, nämlich gleiche Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten unabhängig vom Geschlecht, sexueller Orientierung und Identität, Alter, Hautfarbe und Herkunft. Solcherart durchmischte Gruppen gehen Themen und Probleme kreativer an als homogene Teams. Wenn diese Erkenntnis sich durchsetzt, dann müssen sich Elektroinstallateurinnen auf der Baustelle nicht zuerst beweisen, um respektiert zu werden, und Epidemiologinnnen werden in einer Pandemiewelle nicht mehr sexistisch angefeindet.

Autor

Roger Portmann

Roger Portmann, lic. phil. I, ist Historiker, Berufsfachschullehrer, Dozent und Journalist. Nach Berufslehre und Zweitweg-Matura studierte er Geschichte, Medienwissenschaften, Politologie und Kulturwissenschaften in Zürich und Berlin. Während jener Zeit war er als Radioredaktor und Moderator tätig, begann für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben und Berufslernende zu unterrichten. Nach dem Lizentiat erlangte er das Diplom zum Berufsfachschullehrer ABU. An der Pädagogischen Hochschule Zürich arbeitete er im ABU-Studiengang als wissenschaftlicher Mitarbeiter und als Praktikumslehrperson. Neben dem Berufsfachschulunterricht doziert er in der höheren Berufsbildung und setzt sich auch als Moderator von Weiterbildungsanlässen sowie als Autor von Zeitschriftenartikeln mit aktuellen Bildungsfragen auseinander.