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Neue Prüfungsformen für die Berufsbildung

Die Kompetenzorientierung rückt auch an Berufsfachschulen in den Fokus. Die Bildungsverordnungen der reformierten beruflichen Grundbildung und der Schullehrplan 21 für die Volksschulen erfordern diese Neuausrichtung. Was bedeutet das für die Prüfungen im Unterricht und am Qualifikationsverfahren? Wird an Berufsfachschulen zeitgemäss geprüft? Wir haben erfahrene Fachleute zu einer Gesprächsrunde eingeladen.

Text: Roger Portmann

fokus: Lassen Sie uns zunächst eine Auslegeordnung versuchen. An Berufsfachschulen wird zunehmend Wert auf Kompetenzorientierung gelegt. Meine Recherchen und Beobachtungen legen aber die Vermutung nahe, dass in den Prüfungen noch immer viel Fachwissen abgefragt wird. Wie sehen Sie das?

Rahel Räz (RR): Ich sehe das auch so. Meine eigenen Erfahrungen mit dem allgemeinbildenden Unterricht (ABU) an Berufsfachschulen zeigen, dass in Prüfungen oft Faktenwissen abgefragt wird, ohne Praxisnähe und Transfer des Unterrichtsstoffes in die Lebensrealität. Dabei sollte der ABU die Berufslernenden ja in relevanten Situationen handlungsfähig werden lassen. Dazu bräuchte es Transferaufgaben, die aus komplexen Situationen hervorgehen und eine vertiefte Auseinandersetzung verlangen. Die Vertiefungsarbeit im Rahmen des ABU-Qualifikationsverfahrens (QV) erfüllt solche Kriterien zeitgemässen Prüfens, aber einige Lernziele des ABU finde ich alltagsfern. Diesbezüglich steht der berufskundliche Unterricht mit seiner Orientierung an Handlungskompetenzen besser da. Ich hoffe, dass sich dies auch im ABU ändern wird.

Thomas Gabathuler (TG): Das Stichwort Handlungskompetenzen ist gefallen. Vor zwei Jahren begannen wir unsere Überlegungen und Arbeiten für eine an Handlungskompetenzen orientierte Schlussprüfung der Automobil-Assistenten und Assistentinnen EBA. Seither wird in unserer Abteilung der Berufsschule Wetzikon von Anfang an nur noch so unterrichtet und geprüft. Die Lernenden dürfen, wie am QV, auch in den Schulprüfungen ihren Laptop-Computer benützen. Die Kompetenzorientierung der Prüfungen ist manchmal einfacher, manchmal schwieriger zu bewerkstelligen: In Berufen, die etwas herstellen oder reparieren, in meiner Branche etwa die Automobilfachleute EFZ, fällt sie leichter als in assistierenden EBA-Ausbildungen.

Corina Reissig (CR): Die berufspraktischen Prüfungen für Floristinnen und Floristen erarbeiten wir an der Berufsschule Mode und Gestaltung schon seit mehr als zehn Jahren kompetenzorientiert und fächerübergreifend. Der Transfer von der Theorie in die Praxis und die Vernetzung von Wissensbereichen fällt den Lernenden oft schwer und wir wollen sie im Unterricht schrittweise dahinführen. Bei den angehenden Floristinnen und Floristen EFZ bauen wir semesterweise auf, mit Grundlagen und Fachwissen in den ersten zwei Semestern, danach mit kleineren Fallbeispielen inklusive Analyse und Besprechung durch die Lehrperson. Später gibt es vernetzte Aufgaben, bei denen mehrere Fächer verknüpft werden, wie es auch an der schriftlichen Prüfung des QV verlangt wird. Die Erstellung solcher Aufgaben ist anspruchsvoll und zeitaufwendig, aber wir sind damit sehr nahe am Alltag der Lernenden.

Gregor Thurnherr (GT): Prüfungen mit einem Schwerpunkt auf Fachkompetenzen sind nichts grundsätzlich Schlechtes. Corina Reissig hat uns ja exemplarisch aufgezeigt, dass zunächst Fachwissen und Fachkompetenzen vermittelt werden. Eine solche Grundlage, auf der später der Erwerb von Kompetenzen aufgebaut wird, muss vorhanden sein. Viel entscheidender ist, was in einer Prüfung konkret gefordert wird. Wer eine sinnlose Aufzählung von Fachbegriffen verlangt, ist natürlich auf dem falschen Weg. Wenn wir aber davon ausgehen, dass es z. B. für eine Floristin ein Wissen gibt, das sie bei der Beratung eines Kunden zwingend braucht, dann ist eine solche Fachwissensprüfung legitim. Der Inhalt muss aber in Bezug zu einer Arbeitssituation stehen, damit er mit der Praxis vernetzt werden kann.

Corina Reissig und Thomas Gabathuler, Sie erstellen für das QV Ihrer jeweiligen Berufe Schlussprüfungen, bei denen die Handlungskompetenzen im Zentrum stehen. Was hat sich damit konkret geändert?
CR: Beim QV der Floristinnen und Floristen EFZ wurde früher viel Wissen abgefragt. Nun werden die Lernenden mit einer vernetzten Aufgabe hohen Niveaus konfrontiert, mit detailliert ausformulierten Ausgangssituationenund Rahmenbedingungen aus der Praxis. Die zukünftigen Berufsleute müssen begründete Vorschläge machen bezüglich Gestaltung, Technik, Werkstoffen oder Farben und Preise kalkulieren. Dazu kommt ein Fachgespräch mit Expertinnen und Experten. Auch bei diesem Fallbeispiel geht es nicht um Abfragen von Wissen, sondern darum, wie die Lernenden ihre Lösungen und Ideen begründen. Dazu sind jedoch, wie schon mehrfach betont wurde, immer auch Fachkenntnisse notwendig.

TG: Bei den Automobilberufen stufen wir nach verschiedenen Kompetenzfeldern ab, je nach Länge der Grundbildung. Auch bei uns steht eine schriftlich formulierte Praxissituation, mit der sich die Lernenden identifizieren können, im Vordergrund. Der rote Faden der komplexen, mehrteiligen Situation entspricht dem Arbeitsablauf in der Garage. Die Grundlagen in Form von Fachwissen müssen auch hier vorhanden sein. Wir haben im Unterricht zwar mit dem Abfragen von Fakten aufgehört, überlegen uns im Team aber gerade, wie man während den Semestern mithilfe von Moodle dieses Fachwissen bei den Lernenden auffrischen kann. Denselben Praxisbezug und roten Faden wie das QV haben die Unterrichtsmaterialien und Prüfungen. Auch sie, inklusive umfangreicher Musterlösungen, erstellen wir in Teamarbeit, weil dies alles sehr zeitintensiv ist.

So aufwendig ist das Erstellen von Prüfungen nun geworden?
CR: Für das QV müssen die Korrekturblätter und Beurteilungskataloge tatsächlich sehr detailliert ausgearbeitet und die Ausgangssituationen sorgfältig überlegt, eingegrenzt und kriterienbasiert sein. Dies geschieht in Arbeitsgruppen mit Lehrpersonen und Fachleuten aus der Praxis. Und auch bei uns werden die Materialien und Prüfungen für den Unterricht oft in Teamarbeit erstellt oder in Fachgruppen diskutiert. Hier wäre bei vielen Themen übrigens eine engere Zusammenarbeit zwischen ABU und Berufskunde sehr wünschens- und lohnenswert.

TG: Angesichts dieser intensiven Arbeit, die in kompetenzorientierte Prüfungen investiert werden muss, klären wir zurzeit ab, ob wir den Lernenden die gelösten und bewerteten Schulprüfungen überhaupt noch herausgeben wollen. Dass die dann weitergegeben werden, ist anzunehmen, und jedes Schuljahr wieder völlig neue gute Prüfungen auszuarbeiten wäre ein immenser Aufwand. Stattdessen könnte man Berufsbildnerinnen und Lernenden Einblick in die Prüfungen gewähren.

CR: Neben solchen Aspekten scheint mir noch etwas anderes wichtig, in das Zeit investiert werden muss: die Begleitung der Lernenden während der ganzen Grundbildung. Man muss mit ihnen immer wieder Situationen analysieren und herausfinden, wo sie anstossen und wie sie dies ändern können. Nach der Ausbildung müssen sie solche Schritte dann selbstständig gehen. Was für einen Stellenwert nehmen digitale Werkzeuge ein, wenn man dem kompetenzorientierten Prüfen noch mehr Raum geben möchte?

GT: Smartphones ermöglichen es, mit neuen Prüfungsformen von der allgegenwärtigen Schriftlichkeit von Prüfungen wegzukommen. Lernende nehmen Testimonials oder Fachgespräche auf und die Lehrperson analysiert dann deren Argumentationen. Ich denke auch an Fotos oder Videos, auf denen ein Arbeitsgang gezeigt bzw. erklärt wird, also an zumeist einfache Produkte ohne grossen Aufwand. Gruppenarbeiten können in einem Portfolio dokumentiert werden. Die Aufgabenstellung muss im berufskundlichen Unterricht zwingend aus der Branchenpraxis kommen und auch der Einsatz digitaler Geräte sollte sich an der beruflichen Realität ausrichten.

RR: Wir brauchen solche anderen Prüfungssettings, auch im ABU. Gerade das Digitale bietet uns eine riesige Werkzeugkiste. Ich habe Lernende zu einem Krimi einmal eine Website erstellen und einander Feedbacks geben lassen. Medienkompetenzen können auch mit einem WebQuest geschult werden, bei dem man die Ergebnisse einer Internetrecherche in einem Produkt sichert. Andere Beispiele haben wir gerade gehört. Auch im Portfolio sehe ich ein grosses Potenzial. Statt summativen Prüfungen, die eine Scheingenauigkeit in Dezimalnoten vorgaukeln, hätten wir eine offen gefasste Dokumentation von Lernprozessen, die zeigt, ob das notwendige Faktenwissen vorhanden ist und in seiner Prozesshaftigkeit dem Postulat des lebenslangen Lernens entspricht.

Seien Sie zum Schluss einmal noch ganz kühn. Nehmen wir an, Sie könnten, frei von jeglichen Sachzwängen und Verordnungen, Prüfungen so ausgestalten, wie sie Ihnen richtig und zeitgemäss erscheinen. Wie sähen diese aus?
TG: Die Lernenden würden in der Lehrzeit Portfolios führen und die Experten ihre Fragen für einen ersten schulisch-theoretischen Teil des QV darauf abstimmen. In einem zweiten Teil würde die Theorie lösungsorientiert in der Praxis überprüft. Die überbetrieblichen Kurse (ÜK) und Berufskunde würden zusammengelegt, wofür ich schon lange plädiere.

RR: Auch bei mir im ABU stünden Portfolios der Lernenden im Zentrum. Dort legten sie Projektarbeiten ab und reflektierten das Gelernte. Realistisches und praxisnahes Faktenwissen überprüften sie selber mit digitalen Werkzeugen und die Dokumentation ihrer Lernprozesse flösse ins Portfolio ein. In Teamarbeit erstellten die Lehrpersonen komplexe Transferaufgaben. Qualitative Beurteilungsraster und Feedbacks würden zum Teil die Noten ablösen.

GT: Die Schulnoten würde auch ich durch qualitative Beurteilungen ersetzen, denn qualitative Kompetenzen quantitativ zu beziffern geht eigentlich nicht. Zudem fände die praktische Prüfung des QV am Arbeitsort statt, in der Werkstatt oder im eigenen Fachgeschäft, also dort, wo sich die Lernenden im Berufsleben bewähren müssen und mit dem, was der Lehrbetrieb zu bieten hat.

CR: Das käme mir entgegen. Der Aufwand wäre gross und ich möchte realistisch bleiben. Fürs QV würden wir die Lernenden einen Tag lang begleiten und liessen sie prozessund lösungsorientiert verschiedene Praxisaufgaben bewältigen, die ihnen natürlich vorgängig bekannt sein müssten. Transfer und Vernetzung, Theorie und Praxis, Schule und Alltag – dies alles würde zusammenfliessen.

Kompetenzorientierung in der beruflichen Grundbildung

Mit der Reform der beruflichen Grundbildung entstanden innerhalb der letzten 15 Jahre neue Bildungsverordnungen und Bildungspläne, die sich an Handlungskompetenzen orientieren. Letztere werden als Fähigkeit einer Person verstanden, in unterschiedlichen Situationen selbstorganisiert zu handeln sowie berufliche Aufgaben zielorientiert und fachgerecht auszuführen. Relevant ist die Anwendung des Gelernten, analog zum Lehrplan 21 (siehe hep magazin 9/2018). Auch der allgemeinbildende Unterricht (ABU) ist kompetenzorientiert. Der ABU-Rahmenlehrplan von 2006 beschreibt Bildungsziele in Form von Kompetenzen und die Schullehrpläne formulieren kompetenzorientierte Lernziele.

Die teilnehmenden Expertinnen und Experten

Corina Reissig Moritzi, Berufsschullehrperson, Berufsschule Mode und Gestaltung Zürich Sie ist Meisterfloristin, langjährige ÜK-Instruktorin und QV-Expertin. Der Transfer der Theorie in die Praxis ist für sie zentral und sie verfügt über grosse Erfahrungen im Bereich vernetzte Aufgaben im Qualifikationsverfahren und kompetenzorientiertes Prüfen. Sie arbeitet Teilzeit in der Praxis.

Gregor Thurnherr, Dr. phil., Institut Bilden Beraten GmbH Als berufspädagogischer Begleiter berät er Organisationen der Arbeitswelt bei der Entwicklung von Berufen und Prüfungsverfahren. Er ist Präsident der Qualitätssicherungskommission in der Ausbildung von Ausbildenden.

Rahel Räz, Programmleiterin ABU, Projektleiterin und Lektorin, hep Verlag Für den Verlag betreut sie die Buchprojekte für den allgemeinbildenden Unterricht (ABU) und das digitale Angebot zu aktuellen Themen, ist Workshopleiterin und Referentin. Die ausgebildete Volksschul- und ABU-Berufsfachschullehrerin unterrichtet ABU und ist zertifizierte Medienpädagogin.

Thomas Gabathuler, Berufsschullehrperson, Gewerbliche Berufsschule Wetzikon Er unterrichtet bei den drei- und vierjährigen Automobilberufen. Für das QV erstellt er handlungskompetenzorientierte Prüfungen und ist als Experte tätig. Der Bezug zur Praxis ist ihm sehr wichtig, weshalb er in den Garagen Praktika absolviert.

Autor

Roger Portmann

Roger Portmann, lic. phil. I, ist Historiker, Berufsfachschullehrer, Dozent und Journalist. Nach Berufslehre und Zweitweg-Matura studierte er Geschichte, Medienwissenschaften, Politologie und Kulturwissenschaften in Zürich und Berlin. Während jener Zeit war er als Radioredaktor und Moderator tätig, begann für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben und Berufslernende zu unterrichten. Nach dem Lizentiat erlangte er das Diplom zum Berufsfachschullehrer ABU. An der Pädagogischen Hochschule Zürich arbeitete er im ABU-Studiengang als wissenschaftlicher Mitarbeiter und als Praktikumslehrperson. Neben dem Berufsfachschulunterricht doziert er in der höheren Berufsbildung und setzt sich auch als Moderator von Weiterbildungsanlässen sowie als Autor von Zeitschriftenartikeln mit aktuellen Bildungsfragen auseinander.