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Neue Lernkultur dank der Corona-Krise?

Die Coronavirus-Pandemie wird viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nachhaltig verändern, so auch das Schul- und Unterrichtswesen. fokus hat vier Persönlichkeiten zu ihren Erfahrungen und Erkenntnissen befragt. Das Interview erfolgte coronabedingt in schriftlicher Form.

Interview: Alex Bieli

fokus: Wie haben Sie während der Corona-Zeit den Fernunterricht in Ihrer beruflichen Funktion erlebt?
Janine Allimann: Es war, als hätten wir als ungeübtes Schwimmteam den Ärmelkanal bei hohem Wellengang durchschwimmen müssen. Am anderen Ufer angekommen, stellten wir überrascht fest, wie gut wir die Herausforderung gemeistert hatten. Zuerst mussten wir für den Fernunterricht die Bedingungen schaffen. Das hiess, innerhalb von zwei Tagen Teams für alle Klassen zu eröffnen. Die nächste Herausforderung bestand darin, die Lernenden auf Distanz in die Teams zu holen, wissend, dass viele das Schullogin oder ihr Passwort seit dem ersten Schultag wieder vergessen hatten. Für die Lehrpersonen definierten wir den Arbeitsrahmen für den Fernunterricht und unterstützten sie im technischen sowie im didaktischen Bereich. Für die Lernenden boten wir einen Online-Support an. Innerhalb einer Woche strukturierten, organisierten und begleiteten wir den Übergang vom Präsenz- zum Fernunterricht. Das war sehr herausfordernd. Da niemand Erfahrung mit dem Fernunterricht besass, war es sehr wichtig, Fehler zuzulassen und sie als normal zu betrachten. Die zwei Monate Fernunterricht waren intensiv für Lehrende und Lernende. Sie wirkten aber wie ein enormer Akzelerator auf die gesamte Schul- und Teamentwicklung. Wir sind heute nicht mehr dieselbe Schule wie am 13. März 2020! Noch nie haben wir in so kurzer Zeit gemeinsam so viel gelernt und uns gegenseitig so stark unterstützt. Es ist, als hätten wir eine zweijährige Entwicklungsphase in nur zwei Monaten durchlaufen.

Rahel Tschopp: Es war eine äusserst herausfordernde und spannende Zeit. Einerseits mussten wir an der Pädagogischen Hochschule unsere Kurse und Lehrgänge per sofort auf Fernbetrieb umstellen. Anderseits war es mir wichtig, dem Schulfeld sofort Unterstützung zu bieten. Dank der Unterstützung der Gebert Rüf Stiftung konnten wir innert kürzester Zeit für Lehrpersonen eine Telefon-Hotline aufbauen, die von Fachpersonen aus der ganzen Deutschschweiz betrieben wurde. Bei diesen Anrufen erlebten wir die ganze Bandbreite der Herausforderungen, die sich den Lehrpersonen stellten.

Philippe Wampfler: Für mich war die Zeit didaktisch anregend, weil wir alle gefordert waren, innovativ in weniger bekannten Settings zu arbeiten – aber auch sehr ermüdend, weil vieles nicht so geklappt hat, wie man sich das vorstellt oder wünscht.

Beat A. Schwendimann: Normalerweise liegen die Volksschulen in der Zuständigkeit der Kantone. Mit dem Verbot des Präsenzunterrichts aufgrund der Coronavirus-Pandemie hat der Bundesrat direkt auf die Volksschulen eingewirkt. Zudem hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nationale Grundprinzipien für Schutzkonzepte erlassen. Da während dieser ausserordentlichen Lage der Bund auf nationaler Ebene Beschlüsse für die Schulen erlassen hat, war der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) ein wichtiger Ansprechpartner für Politik und Medien.

fokus: Welches sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Jannine Allimann: Die wichtigsten Erkenntnisse sind für mich, wie gut der Fernunterricht geklappt hat und wie viele spannende Möglichkeiten er bietet. Nicht bewahrheitet hat sich die Befürchtung, dass Lernschwache auf der Strecke bleiben würden. Im Gegenteil. Einige zeigten sich im Fernunterricht aktiver als im Präsenzunterricht. Lernende trainierten in Videokonferenzen ihr Hörverständnis sowie ihre mündliche Ausdrucksfähigkeit. Ihre Fragen mussten sie präziser formulieren als im Präsenzunterricht, weil die direkte Interaktion vor Ort fehlte. Doch die Klassenführung auf Distanz war herausfordernd. Es war wichtig, die Unterrichtssequenz mit einer Videokonferenz zu beginnen, um sich als Lehrperson präsent zu zeigen und um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Als die ersten Lernenden im Pyjama oder noch verschlafen im Bett liegend am Unterricht teilnahmen, realisierten wir, dass wir klare Rahmenbedingungen festlegen müssen.

Rahel Tschopp: Ich erlebe unser öffentliches Schulsystem im Normalfall als träg. Die Corona- Zeit hat gezeigt, dass es – im Zusammenspiel mit allen Stakeholdern – doch auch sehr beweglich, innovativ und dynamisch sein kann. Es stimmt mich optimistisch, dass tiefgreifende Änderungen möglich sind.

Philippe Wampfler: Mir wurde klar: Wir brauchen eine andere Lernkultur. Prüfungen müssen aus Schulen so schnell wie möglich verschwinden: Lernende müssen ihren Lernprozess verstehen, sich auf eine Sinnsuche begeben und sich motivieren. Wenn Schule darauf aufbaut, lassen sich Krisen und die digitale Transformation bewältigen. Andernfalls stehen wir vor grossen Problemen.

Beat A. Schwendimann: Es hat sich gezeigt, dass sehr unterschiedliche Lösungen gefunden wurden. Dabei handelte es sich ja nicht um einen Fernunterricht im klassischen Sinne, sondern um einen Notfall-Fernunterricht, welcher innert weniger Tagen aufgebaut werden musste. Die Lehrpersonen haben verschiedene Mittel und Wege eingesetzt, um die Lernprozesse aus der Ferne zu begleiten. So haben einige tägliche Videokonferenzen für die ganze Klasse organisiert oder per Telefon, E-Mail, Chat-Apps oder Video-Tools eins zu eins mit den Schülerinnen und Schülern Kontakt gehalten. Andere haben Lern-Apps und Lernplattformen eingesetzt oder Arbeitsblätter per Post versandt. Ausser der Begleitung der Lernprozesse war auch die soziale und emotionale Unterstützung der Schülerinnen und Schüler von grosser Bedeutung. Die Wichtigkeit der Schule für die ganze Gesellschaft und die systemrelevante Arbeit der Lehrpersonen wurde deutlich!

fokus: Welches sind die Chancen des Fernunterrichts? Wo sehen Sie die Risiken?
Janine Allimann: Der Fernunterricht bietet Chancen für selbstgesteuertes, individuelles Lernen, für Klassenbücher, die alles beinhalten, was sonst an Kopien abgegeben wird und was von den Lernenden als Aufgabe eingereicht wird. Einen grossen Vorteil bieten die privaten Austauschräume für Lernende untereinander oder für Lernende und Lehrperson, da nicht die ganze Klasse Zeuge der Interaktion wird. Sehr interessant ist die einfache Abgabe von Aufträgen oder Prüfungen mit der Möglichkeit zur zeitlichen Einschränkung. Dadurch kann viel Arbeits- und Kopierzeit eingespart werden. Der grösste Gewinn besteht vielleicht darin, dass durch das selbstständige Lernen die Lehrperson mehr Zeit für Lernende mit Anliegen gewinnt, weil die Heterogenität gut aufgefangen wird. Der Fernunterricht kann aber den persönlichen, im direkten Kontakt stattfindenden Austausch nicht ersetzen. Für die Beziehungspflege, das Erweitern der sozialen Kompetenzen, das Schaffen einer tragfähigen Atmosphäre und Vertrauensbasis braucht es die direkte Begegnung im Klassenzimmer.

Rahel Tschopp: Dieser Fernunterricht war eine Notlösung, das muss uns bewusst sein. Die Schulen waren weder pädagogisch, organisatorisch noch bezüglich der technischen Infrastruktur darauf vorbereitet. Die riesige Heterogenität der Schulen zeigte sich unkaschiert: Einige Kinder blühten zu Hause regelrecht auf, andere müssen nun langsam wieder «aufgepäppelt» werden und in den Alltag finden. Einige Lehrperson zeigten ihre gesamte Innovationskraft und nutzten ihr pädagogisches Know-how hoch professionell, andere verschickten den Kindern zig Arbeitsblätter und traten kaum in Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern. Der Schulbarometer (www.schulbarometer.net) der PH Zug zeigt die Chancen und Risiken differenziert auf. So hat der coronabedingte Fernunterricht z. B. die Bildungsunterschiede zwischen den Kindern verschärft, da nicht alle dieselben Lernbedingungen zu Hause vorfanden.

Philippe Wampfler: Für mich besteht die Chance einerseits im Fokus auf das Wesentliche und andererseits in der Reduktion des Zwangs, zu bestimmten Zeiten irgendwo anwesend sein zu müssen. Die Risiken sehe ich auf der sozialen Ebene: Der Zusammenhalt diverser Lerngruppen wird schwächer, wenn sich die Lernenden nicht auch informell begegnen können.

Beat A. Schwendimann: Die Zeit des Notfall-Fernunterrichts wurde von den Schülerinnen und Schülern sehr unterschiedlich erlebt. Einige haben es geschätzt, im eigenen Tempo zu lernen und mit der Lehrperson eins zu eins zu kommunizieren. Andere waren sehr aktiv in Diskussionsforen, da sie sich lieber schriftlich mitteilen und im Präsenzunterricht sonst eher schüchtern sind. Es gab aber auch Schülerinnen und Schüler, die nur sehr wenig Zeit mit Lernen verbrachten und einige konnten gar nicht erreicht werden. Mancherorts fehlte es zu Hause an Unterstützung und Struktur. Dies hat dazu geführt, dass die Schülerinnen und Schüler mit sehr unterschiedlichen Lernfortschritten wieder zurück in den Präsenzunterricht gekommen sind. Es ist nun eine grosse Herausforderung der einzelnen Schulen, diese benachteiligten Schülerinnen und Schüler gezielt zu unterstützen. Klar gezeigt hat sich, wie wichtig die persönlichen sozialen Interaktionen und die professionelle Unterstützung durch Fachpersonen in der Schule sind.

fokus: In welchen Bildungsbereichen ist für Sie eine Weiterentwicklung und ein Ausbau des Fernunterrichts wünschenswert und nötig? Weshalb?
Janine Allimann: Wenn das Ziel selbstorganisiertes oder projektbasiertes Lernen ist, sind der Ausbau und die Weiterentwicklung des Fernunterrichts auf der tertiären Stufe und im Weiterbildungsbereich sehr wünschenswert. Unnötige Reisezeit wird vermieden. Der Lerneffekt ist bei einem zielgerichteten Einsatz der digitalen Tools kombiniert mit passenden Methoden gegeben. Zusätzlich wird die Selbstständigkeit gefördert.

Rahel Tschopp: Wie gesagt: Der Fernunterricht war eine Notlösung. Ich wünsche mir, dass die Schulen – sowie die Hochschulen – diese Ausnahmezeit in Ruhe und mit Distanz analysieren und daraus Entwicklungen ableiten. Eine Mittelstufenklasse wünschte sich zum Beispiel die Abschaffung der Lektionen-Taktung und hat bei der Schulöffnung Mitte Mai den «Trainerhosen- Freitag» eingeführt. Wichtig ist: Fernunterricht funktioniert nicht wie Präsenzunterricht und muss anders konzipiert werden.

Philippe Wampfler: Dort, wo Schulen keine Betreuungsaufgaben übernehmen müssen, eröffnet Fernunterricht Raum für eine umfassende Entwicklung hin zu Settings, in denen Lernende Verantwortung übernehmen können und nicht kontrolliert werden müssen.

Beat A. Schwendimann: Dieser Notfall-Fernunterricht hat gezeigt, dass der Fernunterricht nicht für alle Schülerinnen und Schüler und alle Schulstufen einsetzbar ist. Vor allem bei jüngeren Kindern ist es nicht realistisch oder pädagogisch wenig sinnvoll, dass sie stundenlang vor dem Bildschirm sitzen. Es braucht einen stufengerechten Einsatz digitaler Lerntechnologien. Zudem kann Unterricht noch differenzierter gestaltet werden, indem in unterschiedlichem Tempo und an unterschiedlichen Aufgaben gearbeitet wird.

fokus: Was braucht es für eine nachhaltige, zielführende Implementierung des Fernunterrichts ins Bildungssystem?
Janine Allimann: Diese Frage würde ich lieber umformulieren und «Fernunterricht» mit «Anwendung der digitalen Hilfsmittel» ersetzen. Es ist nicht vorstellbar, dass auf der Primarstufe, der Sekundarstufe I und an Berufsfachschulen nur noch Fernunterricht geboten wird. Die soziale Interaktion im direkten Kontakt ist auf diesen Stufen viel zu wichtig für die persönliche Entwicklung sowie für das Lernen, als dass sie ausschliesslich in den digitalen Raum verlagert werden dürfte.

Rahel Tschopp: Für mich stehen nach der Corona- Zeit noch stärker als vorher grundsätzliche Fragen im Zentrum: Wie muss die Volksschule sein, damit sie zeitgemäss ist? Wie viel Sinn macht es, in isolierten Fächern zu lernen? Welche Möglichkeiten gibt es, das projektartige, interdisziplinäre und selbstverantwortliche Lernen zu stärken? Welche Lernorte – neben dem Schulhaus – sind auch sinnvoll und möglich? Der «Kompass digitaler Wandel» regt dazu an, die Digitalisierung mit einem weiten, offenen Blick zu diskutieren.

Philippe Wampfler: In einem ersten Schritt brauchen alle Lernenden Zugang zu Lernplattformen. Dazu gehört auch ein digitales Arbeitsgerät – das die Schule stellen muss – und Netzzugang. In einem zweiten Schritt müssen Lernorte für diejenigen geschaffen werden, die zuhause keine Arbeitsatmosphäre herstellen können. Drittens braucht es didaktisch ein klares Verständnis dafür, was im Präsenz- und was im Fernunterricht geschehen kann und soll.

Beat A. Schwendimann: Die Schule hat die Aufgabe, die Lernenden auf aktuelle und zukünftige Lebens- und Arbeitswelten mit digitalen Technologien vorzubereiten. Dazu eignet sich nicht ein reiner Fernunterricht, sondern eine Mischung aus Präsenzunterricht erweitert durch asynchrone und synchrone digitale Technologien (Blended Learning). Im Zentrum soll dabei aber nicht die Technologie, sondern die Qualität der Lehr- und Lernprozesse stehen. Digitale Technologien bringen nur dann einen Mehrwert, wenn sie zielgerichtet und pädagogisch passend eingesetzt werden. Für die zielführende Implementation in der Schule müssen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in die Vorbereitung von Aus- und Weiterbildung sowie in die Entwicklung digitaler Lehr- und Lernmitteln einfliessen.

Janine Allimann ist Rektorin der Berufsschule Mode und Gestaltung im Herzen von Zürich mit Grundbildungen im Bereich Floristik, Kosmetik, Coiffure, Bekleidungsgestaltung sowie mit Vorlehr- und Integrationsvorlehrklassen.

Philippe Wampfler ist Deutschlehrer an der Kantonsschule Enge, Dozent für Deutschdidaktik an der Uni Zürich und Autor. Den Fernunterricht hat er mit Videos begleitet, man findet sie unter #digifernunterricht.

Rahel Tschopp ist Primarlehrerin, Heilpädagogin und Schulleiterin. Sie studierte Business Coaching und Change- Management. Seit rund 20 Jahren arbeitet sie in der Erwachsenenbildung. Die letzten vier Jahre leitete sie das Zentrum Medienbildung und Informatik an der PH Zürich.

Dr. Beat A. Schwendimann ist der Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Nach seinem Studium an der ETH Zürich hat er als Lehrer an Kantonsschulen und in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Als Forscher im Bereich Erziehungswissenschaften hat er an der Universität von Kalifornien in Berkeley im Bereich innovativer Lehr- und Lerntechnologien promoviert und anschliessend als Projektleiter an der Universität Sydney und der EPFL gearbeitet.