fokus

Schweizer Bildungswege im Dilemma zwischen Berufslehre und Gymnasium

Die Schweizer Wege der Bildung und der Berufskarrieren sind erfolgreich, auch im internationalen Vergleich. Doch sie müssen gefestigt, erweitert und zum Teil neu angelegt werden, damit junge Berufsleute auch in Zukunft reüssieren. So lautet der Konsens unter Fachleuten. Wie den Herausforderungen von Geschlechterstereotypen, Digitalisierung, lebenslangem Lernen und Fachkräftemangel Rechnung getragen werden kann, dazu gibt es unterschiedliche Ideen. Und immer geht es auch um das Dilemma Gymnasium oder Lehre und die Frage, welcher Weg für eine qualifizierte Berufskarriere der richtige ist - eine Frage, die Jugendliche wie Lehrpersonen umtreibt. Dazu erscheinen dieses Jahr im hep Verlag zwei Bücher. Deren Autor*innen nehmen schriftlich Stellung zu unseren Fragen und verdeutlichen die Kerngedanken der beiden richtungsweisenden Publikationen.

Text: Roger Portmann

Digitalisierung, Robotisierung und künstliche Intelligenz verändern nicht nur die Berufe, sondern sie stellen auch neue Anforderungen an die Bildung. Wie gut aufgestellt ist das schweizerische Bildungssystem für diese Herausforderungen?

Andreas Pfister: Gut ist es aufgestellt! Wir haben die Bildungswege bereits, jetzt müssen nur noch mehr Menschen sie beschreiten. Die angesprochenen Entwicklungen– Digitalisierung, Robotisierung, KI –zeigen: Die Ansprüche steigen. Allerdings sind wir nicht klüger als früher. Wir sind immer noch die gleichen Heidis und Geissenpeter. Deshalb brauchen wir längere und höhere Bildung. Die Computer sind die Maschinen unserer Gegenwart. Ich erinnere mich an den Stolz meines Vaters auf seinen neuen Traktor, einen Massey Ferguson 135. Das ist erst fünfzig Jahre her. Mein Traktor ist ein MacBook Air. Schon das ganz normale Arbeiten damit ist anspruchsvoll – für mich jedenfalls. Aber eigentlich wollen wir diese Maschinen programmieren und steuern – selbstbestimmt und frei und wenig subventioniert. Wie der Bauer auf seinem Traktor.

Ea Eller, Rudolf H. Strahm, Jörg Wombacher: Das schweizerische Bildungs- und Berufsbildungssystem ist für die zukünftige Digitalwirtschaft bestens aufgestellt. Im globalen Talent-Ranking, ebenso im EU-Innovationsranking sowie im Ranking der effizientesten Produktionsverfahren liegt die Schweiz an der Spitze. Weshalb? Weil bei uns eine Kombination von handwerklich-industriellen Kompetenzen mit Digitalwissen vorherrschend ist. Es ist eine irreführende Illusion der Bildungspolitiker, dass abstraktes Digitalwissen aus der Allgemeinbildung genügt. Denn in der Realität der Wirtschaft ist Digitalkompetenz mit technischen Anwendungen verbunden, wie etwa im Medizin- und Pflegebereich, in der Gebäudeautomation oder im Business- und Banking-Bereich. Die rein schulische, allgemeine Digitalbildung ohne Anwendungskompetenz garantiert bei uns noch keine Arbeitsmarktbefähigung.

Lebenslanges Lernen setzt Allgemeinbildung voraus. Ist sie flächendeckend genug vorhanden, etwa mit dem allgemeinbildenden Unterricht an Berufsfachschulen, oder braucht es dafür eine höhere Maturitätsquote?

A. Pfister: Ganz klar Letzteres. Es braucht nicht nur ABU, es braucht mehr schulische Bildung. Die Berufs- und Fachmaturitäten bieten das. Ihre Lehrpläne sind sorgfältig austariert: Sie verbinden breite mit fachspezifischer Bildung. Derzeit gibt es grosse Unterschiede innerhalb der verschiedenen Lehren: In bestimmten Berufsgruppen ist der schulische Rucksack zu klein. Damit schmälert man die Chancen dieser Leute auf tertiäre Bildung und auf andere Weiterbildungen. Sie laufen Gefahr, abgehängt zu werden. Was es braucht, ist eine flächendeckende Einführung der Berufsmaturität und Fachmaturität als neuer Standard. Die Firmen sollen für ihren Mehraufwand entschädigt werden mit einem neuen Lehrgeld, das über die Steuern erhoben wird. Daneben soll die Gymnasialquote moderat angehoben werden auf durchschnittlich 30 Prozent bis zum Jahr 2030.

E. Eller, R. Strahm, J. Wombacher: Ständiger Strukturwandel und Technologieentwicklung erfordern lebenslanges Lernen. Es ist jedoch eine Täuschung, bloss die breite Allgemeinbildung wie die Maturität würde lebenslang eine bessere Basis für die Karriere legen. Denn was wir heute digitaltechnisch erlernen, ist in zehn Jahren schon veraltet. Und was in zehn oder zwanzig Jahren an Digitalkompetenzen und künstlicher Intelligenz vorherrschend sein wird, kennen wir heute noch nicht. Deshalb ist die modularisierte, aktualisierte Kompetenzvermittlung, wie sie die Bildungsgänge der Höheren Berufsbildung und die Fachhochschulen anbieten, arbeitsmarktnäher, effizienter und karrierewirksamer. Kurz, man kann nicht alles in die Grundbildung hineinstopfen! Echtes «Upskilling» ist in der digitalen Welt nur mit rekurrenten Weiterbildungen möglich.

Bildungs- und Berufsentscheidungen junger Menschen werden beeinflusst – und gleichzeitig eingeschränkt – durch die Eltern, durch soziale und kulturelle Faktoren sowie durch Geschlechterstereotype. Wodurch können hier mehr Gleichheit und Offenheit erreicht werden?

E. Eller, R. Strahm, J. Wombacher: Der «Kampf ums Gymnasium», der in einigen Kantonen mit der «Gymi-Prüfung» schon fast bizarre Züge annimmt, führt klar zu einer sozialen Selektion: Wo Eltern die teuren (oft mehrteiligen) Privatstunden für das Prüfungstraining finanzieren können, haben ihre Jungen klar einen rein sozial bedingten Vorteil beim Zugang zur akademischen Bildung. 80 % der jungen Frauen wählen an der Uni eine geistes- oder sozialwissenschaftliche Ausrichtung, weniger als 20 % eine mathematisch-technische. Es ist eine Tragik, dass viele später, auch fünf Jahren nach Studienabschluss, noch keine feste Anstellung finden. Auch bei der Wahl der Berufslehre gibt es grosse geschlechterbesetzte Vorprägungen, was häufig die genderbedingten Lohndifferenzen zementiert. Sowohl im akademischen Bereich wie bei den Berufslehren müssen die Berufsberatung und die Berufswerbung ständig darauf hinwirken, von den Geschlechterstereotypen bei der Berufs- und Studienwahl wegzukommen.

A. Pfister: Durch die Maturapflicht. Alle Jugendlichen in diesem Land sollen eine gymnasiale Matura, eine Berufsmatura oder eine Fachmatura erlangen. Man muss sich da keine Illusionen machen: Ohne die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht im 19. Jahrhundert hätten wir nicht die Chancengerechtigkeit erreicht, die wir heute haben. Es ist das gute Recht schulmüder Jugendlicher aus bildungsfernen Schichten, nicht zur Schule gehen zu wollen. Es liegt in unserer Verantwortung als Gesellschaft, ihnen die nötigen Strukturen zu geben und das Wollen vorübergehend für sie zu übernehmen. Auch Eigenverantwortung wird gebildet, man muss sie schrittweise und altersgerecht übertragen. Bei der Ausweitung der Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr geht es um das Gleiche wie bei der Schulpflicht: um Fairness.

Vor allem in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik («MINT») fehlen der Schweiz die Fachleute. Wie steuert man diesem Fachkräftemangel am besten entgegen?

A. Pfister: Es braucht eine gute Balance der Fachbereiche. Im Zentrum der Bildung steht immer noch der Mensch – nicht der Arbeitsmarkt. Es ist viel gelaufen im Bereich MINT-Förderung, auf der Sek-II-Stufe stehen wir heute nicht schlecht da. Auf Tertiärstufe ist der Arbeitsmarkt eines von vielen Kriterien bei der Studienwahl. Es zeigt sich: Die MINT-Studienfächer haben tüchtig zugelegt in letzter Zeit. Der Markt scheint also zu spielen. Doch auch die Geisteswissenschaften spielen eine zentrale Rolle in unserer Informations- und Wissensgesellschaft. Ingenieure braucht das Land, heisst es. – Ja, aber auch Computerlinguistinnen, Dolmetscher, Künstlerinnen.

E. Eller, R. Strahm, J. Wombacher: Der Fachkräftemangel ist vor allem ein Mangel an Leuten mit Berufserfahrung und Weiterbildungen, die Fach- und Führungsaufgaben übernehmen können. Dieser Mangel kann nur behoben werden, wenn die berufliche Grundbildung attraktiver wird für gute Schüler*innen, die das Potenzial für Führungsaufgaben haben und sich innerhalb der Firmen entwickeln können. Da muss die Grundbildung besser die Reserven (z.B. junge Frauen) ausschöpfen können. Wir haben nicht generell einen Akademikermangel, sondern einen Mangel an Mediziner*innen (wegen des Numerus clausus) und an Pflegefachpersonen (wegen der Ausbildungslücke in Spitälern und Heimen). Zudem ist die Maturitätsordnung 1995 sprachenlastig. Schon der Zugang ins Gymnasium oder zur Kantonsschule kennt einen Notenmix mit einem Übergewicht von Sprachfächern. Sehr fähige junge Menschen mit mathematisch-technischen Neigungen schaffen oft den Zugang zum Gymnasium nicht.

Auch wer nur geringe schulische Ressourcen mitbringt und sich wenig für Schulbildung begeistert, hat Potenziale praktischer Art. Wie können solche Potenziale praktischer Intelligenz gefördert werden?

E. Eller, R. Strahm, J. Wombacher: Es gehört zur Stärke des dualen Bildungssystems der Schweiz, dass es neben der schulischen Bildung auch die praktische Intelligenz und Anwendungskompetenz wertschätzt, fördert und mit einem eidgenössisch anerkannten Abschluss arbeitsmarktfähig macht. Deshalb ist in der deutschen Schweiz die Jugendarbeitslosigkeit stets markant tiefer als in ganz Europa. Das duale Berufsbildungssystem eignet sich auch für «schulmüde» Jugendliche. Mit dem durchlässigen System «kein Abschluss ohne Anschluss» können sie auch später eine höhere karrierebildende Qualifikation erwerben. Leute mit Berufsabschluss, mit oder ohne Berufsmaturität, und nachfolgender Fachhochschule, Höherer Fachschule oder Höherer Berufs- und Fachprüfung werden heute im Arbeitsmarkt statistisch klar mehr begehrt als Uni-Absolvent*innen! Wir werden dies mit unserem Buch belegen.

A. Pfister: Ich bin froh um diese Frage. Bildung und Beruf sind zentrale Elemente unserer Identität und unseres Selbstwertgefühls. Man ist Lehrerin, Musiker, Bäckerin. Lohn und sozialer Status zeigen die gesellschaftlichen Wertmassstäbe. Man kann mit diesen Wertungen übereinstimmen oder sich von ihnen abgrenzen. Was man nicht kann: Jugendlichen vorgaukeln, sie würden nicht existieren. Selbstverständlich ist kein Mensch mehr wert als ein anderer. Trotzdem leben wir in einer Gesellschaft mit klaren Hierarchien. Arbeiten werden unterschiedlich entlöhnt. Hinzu kommt der Strukturwandel: Praktische Arbeit nimmt ab. Die Berufswünsche der Jugendlichen sind oft veraltet, weil sie sich an ihrer Elterngeneration orientieren. Viele neuen Jobs kennen sie noch gar nicht. Die meisten von ihnen verlangen hohe schulische Qualifikationen.

Die teilnehmenden Autor*innen

Ea Eller ist Psychologin, diplomierte Berufs-, Studien- und Laufbahnberaterin und Leiterin des des Studiengangs «Career Counseling and Human Resources Management – CCHRM» der Universitäten Bern und Fribourg.

Rudolf Strahm ist Alt-Nationalrat, ehemaliger Preisüberwacher und Bildungspolitiker.

Andreas Pfister arbeitet als Gymnasiallehrer für Deutsch und Medien, Bildungsjournalist und freier Autor.

Jörg Wombacher ist Studiengangsleiter im Bereich «International Business Management» an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Basel.