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Die Digitalisierung ist keine Re-, sondern eine Evolution

Vor gut zehn Jahren kam das erste E-Lehrmittel des hep Verlags auf den Markt. Ein guter Zeitpunkt, um ein Zwischenfazit zu ziehen: Wo stehen wir heute, wenn es um die Digitalisierung in den Schulzimmern geht? Eine Nachfrage bei involvierten Akteur*innen zeigt, dass wir uns mitten im Wandel befinden, der Weg aber noch nicht zu Ende ist.

Text: Sebastian Weber

Die Digitalisierung des Unterrichts ist als Schlagwort an den Schulen in aller Munde. Spätestens seit der Corona-Pandemie, da sind sich alle einig, ist die Notwendigkeit unbestritten. Doch ist der digitale Unterricht nun mehr Segen oder Fluch? Ist die digitale Revolution mittlerweile Realität? Wohin führt uns die Entwicklung? Um diese und andere Fragen zu beantworten, lohnt es sich, zuerst einen Blick zurückzuwerfen.

Gut zehn Jahre ist es her, dass das erste E-Lehrmittel des hep Verlags auf den Markt kam. «Wir gehörten damit zu den Pionieren», sagt Irene Kleiner, Herstellungsleiterin beim hep Verlag. Die E-Lehrmittel sind über die beook-App erhältlich. Sie griffen jene Funktionen auf, die bereits davor standardmässig zu jedem E-Book-Reader gehörten – so zum Beispiel das Markieren von Textstellen. Mit ihren neuen Eigenschaften gingen sie aber darüber hinaus. In einem E-Lehrmittel können im Unterschied zum statischen PDF beispielsweise Aufgaben ausgefüllt und geteilt sowie die Lösungen angezeigt werden. Der erste Schritt in Richtung Interaktion war damit getan.

Verlagsintern sei die Produktion der ersten E-Lehrmittel durchaus eine Herausforderung gewesen, erinnert sich Irene Kleiner. So galt es etwa die Frage zu klären, wie sich die Printdaten, die alle nur in InDesign-Vorlagen, auf beook übertragen lassen. «Hierfür mussten wir Regeln festlegen, wie genau die Printtitel neu zu layouten sind», sagt Kleiner. Das Bewusstsein sei damals noch ein anderes gewesen: «Als das gedruckte Buch erstellt wurde, hat man sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie sich daraus später ein E-Lehrmittel herstellen lässt.» Dies sei heute zum Glück nicht mehr so. Trotzdem müsse sich der Verlag künftig noch stärker von «Print first» lösen und in Richtung «Content First» bewegen, findet Kleiner. Bedeutet: Bei der Herstellung werden künftig vermehrt datenneutrale Inhalte erfasst, die je nach Art der Nutzung, also beispielsweise fürs Print oder eine App, entsprechend formatiert werden. Der interne Arbeitsablauf werde dadurch sicher verbessert, glaubt Irene Kleiner. Aktuell sei der Aufwand für die Herstellung von E-Lehrmitteln nach wie vor gross. Was nicht zuletzt mit der Anzahl involvierter Akteur*innen und der grossen Menge an Titeln zu tun hat. Zur Verdeutlichung: In den Anfängen erschienen beim hep Verlag zwei bis drei E-Lehrmittel im Jahr, heute sind es durchschnittlich 25.

Aus Sicht des Verlags sei das E-Lehrmittel ein toller Start gewesen, sagt Rahel Räz, die von 2013 bis 2020 Programmleiterin ABU beim hep Verlag war. Sie habe die E-Lehrmittel an den Schulungen mit grosser Begeisterung präsentiert. Für Räz, die an der Berner Berufsfachschule für medizinische Assistenzberufe unterrichtet, steht aber fest: Das Ende der Fahnenstange war mit den E-Lehrmitteln noch lange nicht erreicht. «Die technischen Möglichkeiten sind heute viel weiter.» Die Lehrpersonen waren ebenfalls bereit für den nächsten Schritt: Während ihrer Workshops habe sie festgestellt, dass sie mehr selbst anpassen und eigene Inhalte einbauen möchten, erzählt Räz. Zudem sei der Zugang zu den E-Lehrmitteln mit einer Hürde verbunden, weil zuerst eine App heruntergeladen und installiert werden müsse. Etwas Webbasiertes sollte deshalb her – eine Online-Plattform, die sowohl individuelles als auch kollaboratives Lernen ermöglicht. Die Idee für die mySkillbox war geboren.

Die 2020 aufgeschaltete Lernplattform für den allgemeinbildenden Unterricht sei die logische Weiterentwicklung des E-Lehrmittels gewesen, sagt Rahel Räz. Im Unterschied zu E-Lehrmitteln lösen sich Onlineplattformen komplett vom gedruckten Wort. «Bei der mySkillbox stand die Frage im Vordergrund, welche Funktionen sie erfüllen muss. Erst danach wurden die entsprechenden Inhalte gemeinsam mit der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung produziert», sagt Räz. Die neue Plattform habe gerade bei den technikaffinen Lehrerpersonen rasch Anklang gefunden. «Die Absatzzahlen waren durchaus erfreulich.» Gleichzeitig habe es viel Überzeugungsarbeit benötigt, um den Schulen die mySkillbox schmackhaft zu machen, so Räz. Der Wechsel auf eine Lernplattform sei für die Lehrer*innen mit Aufwand verbunden, erklärt Stephan Schori, Co-Programmleiter des hep Verlags, diesen Umstand. «Es ist daher eine grosse Herausforderung für die Schulen, einen solchen Lehrmittelwechsel vorzunehmen.» Schori zieht aber ebenfalls ein erfreuliches Fazit: «Die mySkillbox hat positiv am Markt platziert werden können.» Auch die Zeichen hinsichtlich der neuen Plattformen myKV und myDHF, die auf der mySkillbox basieren, hätten dem Verlag gezeigt, dass er auf dem richtigen Weg sei.

Was heutzutage bereits alles möglich ist, das zeigen jene Lehrerinnen, die tagtäglich mit den digitalen Mitteln arbeiten. Einer von ihnen ist Michael Kiener vom Gymnasium Thun. Für den 43-Jährigen ist das digitale Unterrichten gar nicht mehr aus dem Klassenzimmer wegzudenken. Als seine Schule 2018 «Bring Your Own Device» einführte, sah er den Zeitpunkt gekommen, nicht nur die Didaktik umzustellen, sondern auch die Lehrmittel für seinen Unterricht zu wechseln. «Seither unterrichte ich komplett digitalisiert », sagt Kiener, der seit über 11,5 Jahren in Thun Wirtschaft & Recht unterrichtet. Er stellt seine Inhalte konsequent auf Microsoft OneNote zur Verfügung, also zum Beispiel Aufgaben, PDFs, Diagramme oder PowerPoint-Folien. Die Digitalisierung habe zu mehr Interaktion zwischen den Gymnasiastinnen und der Lehrperson geführt, findet Kiener. «Ich lasse den Lernenden immer genügend Platz, damit sie ihre eigenen Ideen in die Unterrichtsgestaltung miteinfliessen lassen können.» Er erwarte von ihnen, dass sie auch selbst aktiv werden.

Bei seinen Lernenden sei der digitale Unterricht auf viel Anklang gestossen, sagt Michael Kiener. Bei zwei Umfragen 2019 und 2022 sei der Zuspruch schon fast verdächtig gross gewesen. Wobei die Schülerinnen durchaus einen Gesinnungswandel durchgemacht haben: Als er 2018 erstmals digitale Lehrmittel bestellt habe, liess er es offen, ob sie eine analoge oder digitale Version haben möchten. «Bis auf eine Person entschieden sich alle dafür, weiterhin auch mit dem gedruckten Buch zu arbeiten», erzählt er. Schon ein Jahr später habe nur noch eine Person weiterhin die physische Version gewollt. Dabei kann er sich gut daran erinnern, dass bereits 2013 am Gymnasium Thun die ersten Pilotklassen mit Laptops hätten ausgerüstet werden sollen. Das Interesse bei den Lernenden sei damals noch nicht gross genug dafür gewesen. «Es entsprach vermutlich nicht dem Zeitgeist». Bei den Gymnasiastinnen und auch bei den Lehrpersonen sei die Bereitschaft seither gewachsen. Bei vielen Lehrkräften am Gymi Thun habe dich der Einsatz von OneNote mittlerweile etabliert. «Ein Grossteil des Kollegiums nutzt die neuen Möglichkeiten.» Bei seiner eigenen Klasse seien es mittlerweile rund 90 Prozent. «Im Vergleich zur Situation vor fünf Jahren ist das ein massiver Anstieg», sagt Kiener. Nicht alle seien aber beim Einsatz digitaler Lehrmittel und Plattformen gleich weit.

Dies bestätigt Bernhard Blank, Co-Rektor des Gymnasiums Lerbermatt in Köniz. Der Impuls zur Einführung von «Bring Your Own Device » 2019 sei an seiner Schule zwar erfreulicherweise vom Kollegium selbst gekommen. Aber natürlich seien nicht alle Lehrerinnen begeistert davon gewesen, so Blank. Auch wenn es keine Fundamentalopposition gegeben habe, hätten sich einige schon ein wenig gegen den digitalen Unterricht gesträubt. Die Schulleitung mache aber bewusst keine Vorschriften. Genau wie am Gymi Thun steht es ihnen an der Lerbermatt frei, ob und wie oft sie die digitalen Mittel einsetzen wollen. Blank schmunzelt und sagt: «Der Druck kommt eher von den Schülerinnen, die ihre Lehrpersonen darauf ansprechen.» Umso wichtiger sei es, immer wieder entsprechende Weiterbildungen durchzuführen. An der Lerbermatt ist der Einsatz digitaler Lehrmittel und Lernplattformen in den letzten fünf Jahren ebenfalls stark gewachsen: «Das Verhältnis zwischen Digital und Print liegt mittlerweile bei etwa 50:50, mit einer steigenden Tendenz hin zum Digitalen», sagt Blank an dessen Schule etwa OneNote und Teams zum Einsatz kommen. Genau wie in Thun wird an der Lerbermatt bereits digital geprüft. Die ständige Verfügbarkeit und die neuen Interaktionsmöglichkeiten bezeichnet der 53-Jährige

als zwei der grössten Vorteile der Digitalisierung. Bei so viel Fortschritt stellt sich die Frage, ob die digitale Revolution mittlerweile Realität geworden ist. Diese wollte Beat Döbeli Honegger, der Leiter des Instituts für Medien und Schule der Pädagogischen Hochschule Schwyz, 2016 in seinem Buch «Mehr als 0 und 1» noch nicht erkannt haben. Doch Bernhard Blank, der im Ausschuss «Bildung & Fachkräfte» der Initiative digitalswitzerland sitzt, winkt ab. «Ich würde nicht von einer Revolution sprechen, sondern von einer ständigen Evolutionsspirale.» Denn eine Revolution, so Blank, würde bedeuten, dass alles Bisherige plötzlich nicht mehr gut genug sei. Das sei aber nicht der Fall: «Nur Frontalunterricht ist nicht der richtige Weg, nur noch Laptops aber auch nicht.» Selbst eine Lehrperson wie Michael Kiener, welche die Digitalisierung früh vorangetrieben hat, sieht das nicht anders: «Ich plädiere für das Beste aus beiden Welten, der analogen und der digitalen », sagt der Lehrer aus Thun und vergleicht sich und seine Kolleginnen mit Landbewohnerinnen, die sich aufs Wasser hinauswagen: «Dann entdeckst du zwar neue Welten, aber das Land existiert weiterhin.» Bei Kiener wird der Laptop deshalb immer wieder zur Seite gelegt und in Gruppen gearbeitet. «Ansonsten geht der soziale Austausch verloren.»

Der zunehmenden Individualisierung steht Michael Kiener nicht nur positiv gegenüber. Mit dieser können die Leistungen der Schülerinnen sehr viel genauer kontrolliert und die Inhalte noch präziser auf den einzelnen Lernenden zugeschnitten werden – zum Beispiel mit Zusatzübungen. Als Gymnasiallehrer sehe er weniger die Notwendigkeit einer noch stärkeren Individualisierung, sagt Kiener. Viel wichtiger ist ihm der projekt- und gruppenzentrierte Unterricht. Er sei überzeugt, dass es die Motivation und somit den Lernerfolg wesentlich mehr steigert, wenn gemeinsam Problem gelöst, hinterfragt, reflektiert und Projekte umgesetzt werden. Andere Lehrpersonen wiederum erkennen eben genau in jener Individualisierung die Zukunft: «Es braucht unbedingt einen adaptiven Unterricht, der den Lernprozess begleitet und es den Schülerinnen ermöglicht, an ihren individuellen Schwächen zu arbeiten», findet Rahel Räz. Auch Bernhard Blank glaubt, dass die Individualisierung in Zukunft immer mehr zunehmen wird. Er erkennt einen Fortschritt darin, dass sich die Inhalte noch viel stärker auf den einzelnen Schüler zuschneiden lassen. «Früher gingen diese Bedürfnisse in der Klasse ein wenig unter.» Während Rahel Räz einen kompletten Umstieg der Lehr- und Lernmedien vom Print aufs Digitale begrüssen würde, ist er diesbezüglich aber zurückhaltender: «Ich hoffe ehrlich gesagt nicht, dass wir in zehn Jahren nur noch digital unterrichten. Damit würde viel verloren gehen.»

Und was ist mit den E-Lehrmitteln? Haben sie vielleicht bald ausgedient? «Wenn ein E-Lehrmittel gut ist, hat es auch in Zukunft absolut seine Berechtigung», findet Bernhard Blank. Er gibt aber zu bedenken, dass die Lehrer*innen immer häufiger ihre eigenen Inhalte produzieren und diese untereinander teilen. Rahel Räz wiederum glaubt, dass es die logische Folge ist, dass die E-Lehrmittel über kurz oder lang von den Lernplattformen abgelöst werden. Diese seien aber ebenfalls nicht der letzte Entwicklungsschritt: «Wir werden das Smartphone künftig im Unterricht noch viel mehr einsetzen und ‹Bring Your Own Device› wird sich überall durchsetzen.» Vielleicht komme künftig sogar eine VR-Brille zum Einsatz, mit der man sich im virtuellen Raum bewegen könne. Auch in der sogenannten Gamification, die darauf abzielt, Wissen spielerisch zu vermitteln, erkennt sie Potenzial.

Als Lernmedienverlag müsse man sich derweil Gedanken machen, wie man den Schulen in dem immer grösser werdenden Angebot eine Orientierung bieten wolle, sagt Räz. «Es wird immer wichtiger, die riesigen Mengen an Informationen zu filtern.» Hierbei würden die Verlage als Inhaltsvermittler weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen. Und auch die Schulen müssen sich neuen Herausforderungen stellen: Weil der neuste KI-Chatbot seinen Weg mittlerweile schon ins Klassenzimmer gefunden hat, werden zum Beispiel die digitalen Prüfungen an der Lerbermatt mittlerweile in einer sicheren Prüfungsumgebung durchgeführt. «Um Betrugsversuche zu verhindern.», erklärt Co-Rektor Bernhard Blank.

Die Evolution ist also noch lange nicht abgeschlossen und wird in den nächsten Jahren Schritt für Schritt voranschreiten. «Und das Schöne dabei:», sagt Rahel Räz, «gute Lehrpersonen braucht es weiterhin.»